Plattformverbote, Werbekanäle und die neue Vertikal-GVO.
Steigende Vorgaben von Herstellern ggü. Händlern, insb. im Bereich des Online-Handels, riefen Wettbewerbsbehörden und Gerichte auf den Plan. Der Europäische Gerichtshof („EuGH“) bestätigte in seiner Entscheidung im Fall Coty im Dezember 2017, dass ein Verkaufsverbot auf Drittplattformen („Plattformverbot“) für Luxuswaren rechtmäßig ist.[1] Die Frage, inwiefern die Zulässigkeit von Vertriebsbeschränkungen im Rahmen des Wettbewerbsrecht auch in anderen Konstellationen gilt, wurde fortan intensiv diskutiert.
Am 1. Juni 2022 traten die neue Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung („Vertikal-GVO“), welche bestimmte vertikale Vereinbarungen von Artikel 101 Absatz 1 AEUV freistellt, sowie die dazugehörigen Leitlinien für vertikale Beschränkungen („Vertikal-LL“), in Kraft.[2] Die Vertikal-GVO enthält eine neue Kernbeschränkung die Vereinbarungen umfasst, welche „die wirksame Nutzung des Internets“ verhindern.[3] Während Plattformverbote von der Kernbeschränkung ausgenommen sind (und somit das Coty-Urteil kodifiziert wird), ist die Verordnung gegenüber Beschränkungen bei Werbekanälen deutlich strenger und stellt ein Verbot ganzer Online-Werbekanäle („Werbekanäle“) nicht frei.
Der Artikel ordnet diese Änderungen aus ökonomischer Perspektive ein. Aufgrund der großen Bedeutung von Online-Drittplattformen („Plattformen“) für bestimmte Händlertypen und in bestimmten Ländern, ist es fraglich, ob eine Freistellung von Plattformverboten angebracht ist. Aufgrund des sich stark überschneidenden Nutzungszwecks von Plattformen und Werbekanälen, erscheint eine Ungleichbehandlung unter der Vertikal-GVO zudem nicht angemessen.
Selektive Vertriebssysteme
Aufgrund der digitalen Transformation, dem Anstieg im E-Commerce sowie der steigenden Relevanz von Plattformen (z.B. Amazon, eBay) setzen Hersteller verstärkt auf vertikale Beschränkungen, um eine größere Kontrolle über den Vertrieb ihrer Produkte sicherzustellen. Solche vertikalen Beschränkungen sind oft Teil eines selektiven Vertriebssystems, in welchem Händler anhand festgelegter Merkmale ausgewählt werden.[4]
Bei der ökonomischen Bewertung von vertikalen Beschränkungen spielen sowohl der markeninterne Wettbewerb (Wettbewerb zwischen Händlern desselben Anbieters) als auch der Markenwettbewerb (Wettbewerb zwischen Händlern unterschiedlicher Anbieter) eine Rolle. Aufgrund des Ausschlusses von Händlern, welche die Kriterien nicht erfüllen, kann ein selektives Vertriebssystem den markeninternen Wettbewerb einschränken und zu einer geringeren Auswahl an Preis-Servicekombinationen und Vertriebsformaten für Verbraucher führen. Insbesondere wenn mehrere Anbieter in einem Markt ein selektives Vertriebssystem betreiben, kann dadurch zudem der Markenwettbewerb eingeschränkt werden. Dies ist der Fall, weil jeder Hersteller eine geringere Anzahl an Händlern auf dem Markt zulässt (nur jene, die die Kriterien erfüllen) und der Wettbewerb zwischen Händlern unterschiedlicher Anbieter somit reduziert wird (kumulative Wirkung).[5]
Andererseits verringern selektive Vertriebssysteme das Trittbrettfahrerproblem. Ohne Vorgaben an den Vertrieb profitieren Händler desselben Produktes von den verkaufsfördernden Maßnahmen und Kundenberatungsleistungen anderer Händler. Dies kann dazu führen, dass zu wenig in diese Leistungen investiert wird. Ein selektives Vertriebssystem kann dem entgegenwirken und den legitimen Anspruch des Herstellers an Qualität und Wahrung eines bestimmten Markenimages erfüllen.[6] Zudem werden vertragsspezifische Investitionen erleichtert, welche außerhalb der vertikalen Beziehung keinen Wert haben (sog. „Hold-up“ Problem).[7] Gleichzeitig kann dies den Markenwettbewerb hinsichtlich der Qualität der Produkte und Dienstleistungen fördern, was wiederum dem Endkonsumenten zu Gute kommt.[8] Sofern der Markenwettbewerb ausreichend stark ist, geht die Europäische Kommission davon aus dass Maßnahmen, welche den markeninternen Wettbewerb einschränken, wahrscheinlich unschädlich für den Verbraucher sind.[9]
Am 1. Juni 2022 trat die neue Vertikal-GVO sowie die dazugehörigen Vertikal-LL in Kraft. Wie bereits in der vorigen Version sind vertikale Vereinbarungen von Artikel 101 Absatz 1 AEUV freigestellt, sofern sie keine Kernbeschränkungen enthalten und die Marktanteile der beteiligten Unternehmen einkaufs- und absatzseitig 30% nicht überschreiten.[10] Vertikale Vereinbarungen, welche diese Kriterien nicht erfüllen, können trotzdem kompatibel mit Artikel 101 Absatz 1 AEUV sein, erfordern allerdings eine individuelle Überprüfung gemäß Artikel 101 Absatz 3 AEUV.[11] Kernbeschränkungen umfassen zum Beispiel vertikale Preisbindungen sowie Beschränkungen der Kundengruppe oder des aktiven oder passiven Verkaufs (gezielte bzw. nicht-gezielte Ansprache) in selektiven Vertriebssystemen.[12] Ein selektives Vertriebssystem, welches rein qualitative Merkmale enthält ist zulässig, sofern (i) dies zur Wahrung der Qualität des Produktes erforderlich ist, (ii) Händler aufgrund objektiver Kriterien ausgewählt werden und (iii) die Vorgaben nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist.[13]
Das Coty-Urteil und die Folgen
Die Diskussion, ob die Ausgestaltung selektiver Vertriebssysteme unter die Vorgaben der Vertikal-GVO fallen, nahm besonders durch das Coty-Urteil des EuGH im Dezember 2017 an Fahrt auf. In diesem hat der EuGH bestätigt, dass ein selektives Vertriebssystem, welches den primären Zweck hat das Luxus-Image eines Produktes zu wahren, in Einklang mit Artikel 101 AEUV sein kann, sofern die oben genannten Kriterien erfüllt werden.[14] In diesem Fall darf Händlern in einem selektiven Vertriebssystem der Verkauf auf Plattformen verboten werden. Konkret ging es in dem Fall darum, dass der Luxuskosmetikhersteller Coty seinem Händler Parfümerie Akzente verbieten wollte, Produkte auf dem Amazon Marketplace zu vertreiben. Gemäß dem EuGH stelle dies keine Kernbeschränkung in Form einer passiven Verkaufsbeschränkung dar, weil der Internetvertrieb nicht generell verboten wurde, sondern der Vertrieb über den eigenen Online-Shop sowie dessen Bewerbung weiterhin möglich war, welcher den wichtigsten Vertriebskanal bei der Vermarktung von Waren durch Einzelhändler darstellt.[15]
Auch wenn dieses Urteil für erhöhte Rechtssicherheit sorgte, blieben doch einige Fragen unbeantwortet.
Erstens war unklar, inwiefern Plattformverbote nur für Luxuswaren möglich sind. Das Bundeskartellamt sah Plattformverbote generell kritisch, und hinterfragte, ob die resultierende Erhöhung des Markenwettbewerbs die Verringerung des markeninternen Wettbewerbs aufwiege. Dagegen betonte Generalanwalt Wahl, dass Plattformverbote auch für „Qualitätswaren“ gelten sollten und die Europäische Kommission kam zu dem Schluss, dass die Argumentation im Coty-Urteil unabhängig von der Produktgruppe valide sei.[16] Zu einer ähnlichen Einschätzung kam auch das OLG Hamburg.[17]
Zweitens verwies das Bundeskartellamt auf die Unsicherheit in Fällen, in welchen der Vertrieb über Plattformen in einem bestimmten Land, relativ zum im Coty-Urteil verwiesenen EU-Durchschnitt, einen wichtigeren Verkaufskanal darstellt. Dies ist beispielsweise in Deutschland der Fall. So sei unklar, ab welchem Punkt die Sichtbarkeit eines Händlers so stark eingeschränkt werde, das von einer Passivverkaufsbeschränkung auszugehen sei.[18]
Drittens blieb offen, wie andere Formen der Einschränkung im Online-Handel in vertikalen Verträgen zu bewerten sind. Der Bundesgerichtshof („BGH“) bestätigte im Dezember 2017 die Einschätzung des Bundeskartellamtes, dass per se Verbote von Preisvergleichsmaschinen eine Kernbeschränkungen in Form einer passiven Verkaufsbeschränkung darstellen.[19] Solch ein Verbot wurde den Händlern des Sportschuhherstellers ASICS auferlegt. Gemäß dem BGH führte dies zu einer wesentlichen Beschränkung der Händler im Online-Handel.[20] Anders als im Fall Coty handelte es sich zudem nicht um Luxusgüter und darüber hinaus führten die kumulierten Beschränkungen (per se Verbot von Preisvergleichsmaschinen, Verbot zur Nutzung der ASICS Marke auf Drittplattformen und in Suchmaschinen) dazu, dass nicht gewährleistet war, dass Kunden in praktisch erheblichem Umfang Zugang zum Online-Angebot der Händler hatten.[21]
Auf das ASICS-Urteil folgte eine Diskussion, inwiefern dieses mit dem Coty-Urteil zu vereinbaren sei.[22] Zwar wurde generell anerkannt, dass die kumulierten Beschränkungen den Internetvertrieb faktisch unmöglich machten, jedoch wurde hinterfragt, inwiefern zwar ein Preisvergleichsmaschinenverbot alleine eine Kernbeschränkung darstelle, das Plattformverbot allerdings nicht. Durch ein Preisvergleichsmaschinenverbot sei es dem Händler noch immer möglich, viele andere Methoden des Online-Verkaufs zu nutzen, sodass nicht von einem faktischen Verbot des Online-Verkaufs gesprochen werden könne.
Die überarbeitete Verordnung und Leitlinien schreiben somit das Coty-Urteil fest. Sie gehen zudem über die EuGH-Rechtsprechung hinaus, indem Plattformverbote nicht auf Luxuswaren beschränkt werden.
Die neue Hardcore-Beschränkung in der Vertikal-GVO
Die überarbeitete Vertikal-GVO greift diese Diskussion auf. Sie enthält eine neue Kernbeschränkung, welche „die Verhinderung der wirksamen Nutzung des Internets zum Verkauf der Vertragswaren und -dienstleistungen“ vorsieht.[23] Gleichzeitig werden zwei Ausnahmen definiert. Erstens sind „andere Beschränkungen des Online-Verkaufs“ erlaubt, welche gemäß der Vertikal-LL mittel- oder unmittelbare Verbote der Nutzung von Plattformen umfassen. Zudem spezifiziert die Europäische Kommission, dass Beschränkungen von Online-Verkäufen nicht dem Ziel dienen, die wirksame Nutzung des Internets zu verhindern, sofern „es dem Abnehmer weiterhin freisteht, einen eigenen Online-Shop zu betreiben und online zu werben“.[24]
Die zweite Ausnahme umfasst „Beschränkungen der Online-Werbung, die nicht darauf abzielen, die Nutzung eines ganzen Online-Werbekanals zu verhindern“, wie zum Beispiel Suchmaschinen oder Preisvergleichsdienste.[25] Während das Verbot bestimmter Suchmaschinen oder Preisvergleichsdienste gemäß der Vertikal-LL in der Regel möglich bleibt, schränke das Verbot ganzer Werbekanäle die Möglichkeiten des Händlers ein, Kunden gezielt anzusprechen und in den Online-Shop zu lenken und ist somit unzulässig. Zudem spezifiziert die Vertikal-LL, dass das Verbot des am weitesten verbreiteten Dienstes eines Online-Werbekanals durchaus eine Kernbeschränkung darstellen kann, wenn die verbleibenden Dienste im Werbekanal „de facto nicht in der Lage sind, Kunden für den Online-Shop des Abnehmers zu gewinnen“.[26]
Die überarbeitete Verordnung und Leitlinien schreiben somit das Coty-Urteil fest. Sie gehen zudem über die EuGH-Rechtsprechung hinaus, indem Plattformverbote nicht auf Luxuswaren beschränkt werden. Zudem übernimmt die Verordnung die Unterscheidung zwischen Verkaufskanälen und Werbekanälen und befindet, in Einklang mit dem ASICS-Urteil, per se Verbote ganzer Werbekanäle für unzulässig. Die Einschränkung des Verbots einzelner Werbekanäle scheint insbesondere relevant für Suchmaschinenwerbung, angesichts der hohen Marktanteile von Google. So kann davon ausgegangen werden, dass ein Verbot der Suchmaschinenwerbung bei Google Ads dazu führt, dass dieser Werbekanal de facto nicht mehr genutzt werden kann und eine solche Vorgabe in der Regel unzulässig sein wird.[27]
Ziel der Vertikal-GVO ist es, die Durchsetzung der Wettbewerbsbehörden zu vereinfachen und Unternehmen dabei zu helfen, ihre Vertikalvereinbarungen selbst zu bewerten. Auf der anderen Seite sollen nur Vereinbarungen freigestellt werden, bei welchen mit "hinreichender Sicherheit anzunehmen ist“, dass sie Artikel 101 Absatz 3 AEUV erfüllen. Es wird allerdings als wichtiger erachtet das Risiko von „falsch Positiven“ (d.h. Vereinbarungen freizustellen, welche diese Bedingung nicht erfüllen) zu verringern als das Risiko von „falsch Negativen“ (d.h. Vereinbarungen nicht freizustellen, welche diese Bedingung erfüllen).[28]
Gemäß der Europäischen Kommission kann nicht mit hinreichender Sicherheit davon ausgegangen werden, dass Maßnahmen, welche die wirksame Nutzung des Internets verhindern, Artikel 101 Absatz 3 AEUV erfüllen. Wie bereits vom Bundeskartellamt aufgeworfen ist es allerdings fraglich, inwiefern Plattformverbote den Online-Vertrieb in manchen Fällen nicht doch faktisch unmöglich machen und deshalb nicht mit hinreichender Sicherheit eine Freistellung unter Artikel 101 Absatz 3 AEUV vermutet werden kann.
Zudem, während die Europäische Kommission der Auffassung ist, dass die Funktionen von Plattformen für den Internetvertrieb nicht notwendig seien, gelte dies für Werbekanäle nicht. Während Plattformen nur einen, zum Online-Shop zusätzlichen Verkaufskanal böten, welcher somit nicht unerlässlich sei, um Waren Online zu vertreiben, schafften Werbekanäle die Möglichkeit, Nutzer auf den eigenen Online-Shop aufmerksam zu machen, was notwendig sei, um das Internet wirksam zu nutzen. Wie bereits in Folge des ASICS-Urteils diskutiert, stellt sich allerdings die Frage, inwiefern diese unterschiedliche Behandlung von Online-Verkaufskanälen und Werbekanälen, insb. im Falle von Preisvergleichsdiensten, angemessen ist.
Relevanz von Plattformen im Online-Verkauf
Gemäß der E-Commerce Sector Inquiry der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2017[29] setzt eine Mehrheit der Händler in der EU alleinig auf den eigenen Online-Shop (61%) während nur wenige ausschließlich auf Plattformen vertreiben (4%). Fast ein Drittel der Händler (31%) nutzt beide Verkaufskanäle.[30] Dies lässt die Europäische Kommission schlussfolgern, dass Plattformverbote die wirksame Nutzung des Internets nicht generell und unabhängig vom Markt verhindern.[31] Allerdings unterscheiden sich die Zahlen auch stark nach Land und Händlertyp. Der Anteil der Händler, die Plattformen nutzen, beträgt in Deutschland 62%.[32] Insbesondere kleinere Händler nutzen entweder nur Plattformen oder machen einen Großteil ihres Umsatzes auf Plattformen, während größere Händler häufig nur über den eigenen Online-Shop vertreiben oder den Großteil ihres Umsatzes im eigenen Online-Shop generieren.[33] Gerade für Länder, in denen Plattformen eine größere Rolle spielen, und für Händler, die vermehrt auf Plattformen setzen, könnte das per se Verbot somit zum Problem werden. So geraten kleinere Händler, die ihre Waren nicht auf einer Plattform anbieten dürfen, in die schwierige Lage, mit größeren Händlern mit entsprechend größeren Marketingbudgets auf Preisvergleichsdiensten konkurrieren zu müssen. Dies könnte den Internetvertrieb für diese Händler erheblich erschweren.
Plattformen scheinen also bei Konsumenten im Online-Kauf in allen untersuchten Produktkategorien der bedeutendste Verkaufskanal zu sein und bei manchen Produktkategorien eine größere Rolle zu spielen als bei anderen.
Betrachtet man die Konsumentenseite, scheinen Plattformen auch allgemein eine große Bedeutung zu haben. In der Verbraucherumfrage zum Einkaufsverhalten in Europa aus dem Jahr 2020, welche zum Zwecke der Überarbeitung der Vertikal-GVO durchgeführt wurde („Study on consumer purchasing behaviour in Europe“), ist der Anteil an Konsumenten, die ihren letzten Kauf auf einer Plattform tätigten, über alle untersuchten Produktkategorien hinweg bei Online-Käufen der höchste. Dieser Wert schwankt je nach Produktkategorie und reicht von 32% bei Kleidung und Schuhe bis hin zu 64% bei Haus- und Gartenausstattung.[34] Plattformen scheinen also bei Konsumenten im Online-Kauf in allen untersuchten Produktkategorien der bedeutendste Verkaufskanal zu sein und bei manchen Produktkategorien eine größere Rolle zu spielen als bei anderen.
Ausgehend von der Annahme, dass Plattformen auch bei Händlern weiter an Bedeutung gewinnen (wie von der Europäischen Kommission prognostiziert[35]) und der insgesamt dynamischen Gegebenheiten im Online-Handel könnte es somit problematisch sein, Plattformverbote für mindestens 10 Jahre, bis zur nächsten Überarbeitung der Vertikal-GVO, als wettbewerbsrechtskonform einzustufen. Zudem ist unklar, wieso die Europäische Kommission in der Vertikal-GVO nicht zumindest die unterschiedliche Relevanz von Plattformen abhängig von der Produktkategorie oder des Händlertyps berücksichtigt.
Plattform vs. Preisvergleichsdienst
Ob Beschränkungen für Plattformen und Werbekanäle unterschiedlich zu bewerten sind hängt auch davon ab, ob sie im selben Markt anzusiedeln sind. In der bisherigen Entscheidungspraxis der Europäischen Kommission wurden Plattformen und Online-Werbekanäle als separate Märkte definiert. So werden in der Entscheidung der Europäischen Kommission im Fall „Google Shopping“ unterschiedliche Märkte für „merchant platforms“ (Plattformen), „comparison shopping services“ (Preisvergleichsdienste) und „online search advertising platforms“ (Plattformen für Suchmaschinenwerbung) angenommen.[36] Die Europäische Kommission beschreibt, dass Plattformen sowohl für Nutzer als auch für Online-Händler einen anderen Zweck erfüllten als Preisvergleichsdienste.[37] Preisvergleichsdienste fungierten als Intermediäre, die es dem Nutzer erlaubten Angebote von unterschiedlichen Händlern und Plattformen zu vergleichen. Der Nutzer könne so das beste Angebot finden und sich von dem Preisvergleichsdienst auf eine andere Website leiten lassen, um dort den Kauf zu tätigen. Plattformen agierten hingegen als Ort, wo Händler und Konsumenten einen Kaufvertrag abschließen könnten und würden von Nutzern auch als solche wahrgenommen.[38]
Preisvergleichsdienste ermöglichten es Online-Händlern zudem, Nutzer auf ihre eigene Website zu leiten und gleichzeitig volle Kontrolle über die Verkaufsaktivitäten zu behalten. Plattformen böten hingegen einen Komplettservice an, der keine eigene Website voraussetze und bei welchem die meisten Aspekte des Handels, wie Online-Shop Design, Transaktionsabwicklung oder Kundenbetreuung, übernommen würden. Darüber hinaus böten Plattformen After Sales-Betreuung inklusive Rückgabeoptionen an, was bei Preisvergleichsdiensten nicht der Fall sei.[39] Somit listeten Preisvergleichsdienste typischerweise größere Händler, welche ihr Geschäft und die Kundeninteraktion nicht Plattformen wie Amazon überlassen wollten, die sie als Wettbewerber sähen. Auf Plattformen seien hingegen häufig kleine und mittelgroße Händler mit begrenzter Markenwirkung zu finden, welche keinen eigenen Online-Shop aufsetzen möchten oder können.[40]
Relevanz von Plattformen als Werbekanäle
Entgegen der Einschätzung der Europäischen Kommission in Google-Shopping scheinen Plattformen jedoch durchaus mehr Funktionen für Konsumenten im Kaufprozess zu übernehmen als die des reinen Kaufes. Die Europäische Kommission basiert ihre Feststellung in Google Shopping, dass Plattformen von Konsumenten als Punkt der Kaufvertragsabschließung wahrgenommen werden, auf einer Umfrage aus dem Jahr 2014. In dieser gibt ein Großteil der Befragten an, dass Plattformen hauptsächlich dem Kauf von Produkten dienen.[41]
So ist der Anteil an Konsumenten, die Plattformen in der Inspirations- sowie der Informationsphase des Kaufprozesses nutzen, in fast allen Produktkategorien die höchste. Auffallend ist auch, dass dieser Anteil in beiden Phasen über alle Produktgruppen hinweg gleich hoch oder höher ist als jener für Preisvergleichsdienste.
Zudem beschreibt die Europäische Kommission, dass die Suchfunktion der beiden Arten von Diensten aus Sicht der Nutzer nicht vergleichbar sei: Während Preisvergleichsdienste eine größere Anzahl an Angeboten verzeichnen, inklusive Angebote von verschiedenen Plattformen, listen Plattformen nur jene Händler, mit denen eine Zusammenarbeit besteht.[42]
Ein anderes Bild ergibt sich hingegen aus den Ergebnissen der Study on consumer purchasing behaviour in Europe. So ist der Anteil an Konsumenten, die Plattformen in der Inspirations- sowie der Informationsphase des Kaufprozesses nutzen, in fast allen Produktkategorien die höchste.[43] Auffallend ist auch, dass dieser Anteil in beiden Phasen über alle Produktgruppen hinweg gleich hoch oder höher ist als jener für Preisvergleichsdienste. Selbst im Falle der vermeintlich wichtigsten Funktion von letzteren, dem Vergleich von Preisen, werden Plattformen mindestens genauso häufig oder häufiger von Konsumenten herangezogen.[44] Daraus lässt sich ableiten, dass Plattformen sehr wohl eine wichtige, wenn nicht sogar eine wichtigere, Bedeutung als Preisvergleichsdiensten in den Vorverkaufsphasen zukommt, welche typischerweise dem Bereich der Werbung zuzuordnen sind. Diese, über den reinen Kaufprozess hinausgehende Rolle von Plattformen, wird auch anhand der Verpflichtungen deutlich, die im Rahmen des Prüfverfahrens der Europäischen Kommission zu Amazon vereinbart wurden. So hat sich Amazon verpflichtet neben der sog. „Buy-Box“ ein Konkurrenzangebot anzeigen, um die Auswahlmöglichkeiten der Verbraucher zu verbessern.[45] Ein Plattformverbot würde dem Händler somit nicht nur die Nutzung eines weiteren Verkaufskanals verbieten, sondern auch die Bewerbung seiner Produkte u.U. erheblich erschweren.
Direktkauffunktion als entscheidendes Abgrenzungsmerkmal
Die Unterteilung in Plattform und Preisvergleichsdienst scheint besonders von der Tatsache abhängig zu sein, ob ein Kauf auf der entsprechenden Seite möglich ist oder ob der Nutzer auf die Seite des Händlers weitergeleitet wird. Tatsächlich bieten manche Preisvergleichsdienste mittlerweile die Möglichkeit, den Kauf direkt auf der Seite durchzuführen (z.B. Idealo). Aktuell gilt dies allerdings nur für wenige Dienste und wenige Händler. So beschreibt die Europäische Kommission, dass die Direktkauffunktion das Geschäftsmodell so stark ändern kann, dass der Dienst nicht mehr in die Kategorie „Preisvergleichsdienst“ fällt, insbesondere dann, wenn die Funktion systematisch für alle oder die meisten Händler und Angebote eingesetzt wird. Dies sei der Fall, weil die Direktkauffunktion die Beziehung zum Kunden verändere und andere Regularien zur Anwendung kämen.[46] Auch wenn die Einführung einer solchen Direktkauffunktion gemäß der Europäischen Kommission mit hohen Kosten verbunden ist, wird dennoch klar, dass die Grenzen zwischen Plattformen und Preisvergleichsdiensten auf Grundlage dieser Abgrenzung schnell verschwimmen können. Man stelle sich vor, ein Preisvergleichsdienst biete zunächst für 40% seiner Produkte eine Direktkauffunktion an und dieser Anteil erhöhte sich dann auf über 50%, sodass der Dienst möglicherweise fortan als Plattform einzustufen wäre. Für den Nutzer änderte sich wahrscheinlich nichts hinsichtlich ob, wie und für welchen Zweck er die Seite nutzte. Alleinig der Kauf würde möglicherweise nun über die Plattform abgewickelt werden, während der Kunde vorher einen Klick mehr machen musste, um das Produkt auf der Seite des Händlers zu kaufen. Allerdings würde diese neue Einstufung ausreichen, um die Nutzung dieses Dienstes dem Händler per se zu verbieten.
Fazit
Plattformen spielen eine relevante Rolle im Online-Handel. Dies ist insbesondere für manche Länder, Produkte und Händler der Fall. Gerade in diesen Fällen könnte das per se Verbot zu weit greifen und den wirksamen Online-Handel verhindern. Angesichts der dynamischen Gegebenheiten im Online-Handel und der Erwartung, dass die Rolle von Plattformen weiter an Bedeutung gewinnen wird, scheint eine Freistellung von Plattformverboten für 10 Jahre gewagt.
Insbesondere scheinen Plattformen auch nicht nur dem Kauf von Produkten zu dienen, sondern zusätzlich eine wichtige Rolle in den Vorverkaufsphasen einzunehmen, die nicht weniger relevant zu sein scheint als die von Werbekanälen, insb. Preisvergleichsdiensten. Somit scheinen Plattformen nicht nur ein weiterer Verkaufskanal zu sein, sondern auch Werbefunktionen zu übernehmen. Auch zeigt sich, dass die Marktabgrenzung der Europäischen Kommission von Plattformen und Preisvergleichsdiensten stark von der Nutzung der Direktkauffunktion abhängt und die Grenzen somit sehr uneindeutig werden können. Die gewonnene Rechtssicherheit könnte zum Teil verloren gehen, sollten Preisvergleichsdienste und gelistete Online-Händler künftig mehr von der Möglichkeit des Direktkaufs Gebrauch machen.
Somit scheint die unterschiedliche Behandlung von Plattformen und Werbekanälen in der Vertikal-GVO nicht angemessen. Um die wirksame Nutzung des Internets tatsächlich zu gewährleisten und somit das Risiko eines „falsch Positiven“ so gering wie möglich zu halten, wäre es adäquater, die beiden Ausnahmen aus der Kernbeschränkung auszuschließen und im vorliegenden Fall die Relevanz der beiden Kanäle zu berücksichtigen. Demgegenüber steht das Ziel „falsch Negative“ zu verhindern, die Durchsetzung des Artikels 101 AEUV zu erleichtern und Rechtssicherheit für Unternehmen zu schaffen. Gegeben der aufgeführten Argumente wäre es dann allerdings zumindest angebracht aus Konsistenzgründen, Plattformverbote und Werbekanalverbote gleich zu behandeln.
Es bleibt spannend zu sehen, inwiefern die nationalen Wettbewerbsbehörden von der Vertikal-LL abweichen, und „andere Beschränkungen des Online-Verkaufs“ möglicherweise enger fassen und somit Plattformbeschränkungen strenger bewerten als die Europäische Kommission.[47] Insbesondere in Fällen, in welchen das Bundeskartellamt zuständig ist, könnte das durchaus zu erwarten sein. Auch bei Einzelfallprüfungen wird es interessant sein zu beobachten, wie die individuelle Relevanz von Online-Werbe- und -Verkaufskanälen im relevanten Markt Berücksichtigung findet.
Jegliche in dieser Kommunikation geäußerten Meinungen sind persönlich und können nicht der Competition Economists Group zugeschrieben werden.
[1] Urteil des Gerichtshofes vom 6. Dezember 2017, Coty Germany GmbH/Parfümerie Akzente GmbH, C-230/16 („Coty-Urteil“).
[2] Verordnung (EU) 2022/720 der Kommission vom 10. Mai 2022 sowie Leitlinien für vertikale Beschränkungen (2022/C 248/01).
[3] Vertikal-GVO, Art, 4(e).
[4] Im Rahmen der E-commerce Sector Inquiry der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2017 gaben 56% der Unternehmen an, selektive Vertriebssysteme zu nutzen. 19% der befragten Unternehmen berichteten als Reaktion auf den wachsenden E-Commerce Sektor selektive Vertriebssysteme eingeführt zu haben, während 67% derer die bereits ein solches System nutzen, neue Kriterien in ihre Vereinbarungen mitaufgenommen haben (European Commission (2017), Final report on the E-commerce Sector Inquiry („E-commerce Sector Inquiry”), Rn. 15(iii) sowie European Commission (2017), Commission Staff Working Document accompanying the Final report on the E-commerce Sector Inquiry („Working document E-commerce Sector Inquiry“), Rn. 223, 225).
[5] Vertikal-LL, Rn. 18, 20, 22, 146.
[6] Vertikal-LL, Rn. 16(b), (h).
[7] Vertikal-LL, Rn. 16(e).
[8] Vertikal-LL, Rn. 148.
[9] Vertikal-LL, Rn. 21.
[10] Vertikal-GVO, Erwägungsgrund 8.
[11] Vertikal-GVO, Erwägungsgrund 9 sowie Vertikal-LL, Rn. 7.
[12] Vertikal-GVO, Art. 4 lit. a) und c).
[13] Vertikal-LL, Rn. 148-149. Dies sind die sog. Metro-Kriterien.
[14] Coty-Urteil, Rn. 36.
[15] Coty-Urteil, Rn. 52-54 und 65-68. Zudem kommt der EuGH zu dem Schluss, dass keine Kernbeschränkung in Form einer Beschränkung der Kundengruppe vorlag.
[16] Bundeskartellamt (2018), Competition restraints in online sales after Coty and Asics – whats next?, Seite 3 sowie European Commission (2018), EU competition rules and marketplace bans: Where do we stand after the Coty judgement? sowie Schlussanträge des Generalanwalts Nils Wahl vom 26 Juli 2017, Rn. 92.
[17] Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 22 März 2018, 3 U 250/16.
[18] Bundeskartellamt (2018), Competition restraints in online sales after Coty and Asics – whats next?, Seite 3. Siehe Abschnitt „Relevanz von Plattformen im Online-Verkauf“ zur Relevanz von Plattformen in Deutschland.
[19] Bundesgerichtshof Beschluss vom 12. Dezember 2017, KVZ 41/17 („ASICS-Urteil“).
[20] ASICS-Urteil, Rn. 25.
[21] ASICS-Urteil, Rn. 30.
[22] Siehe etwa https://cms.law/en/int/publication/german-federal-court-s-asics-ruling-may-be-at-odds-with-recent-eu-judgment sowie https://www.whitecase.com/insight-our-thinking/whod-have-guessed-coty-did-not-end-debate, zuletzt abgerufen am 25.11.2022.
[23] Vertikal-GVO, Art. 4 lit. e).
[24] Vertikal-GVO, Art. 4 lit. e) (i) sowie Vertikal-LL, Rn. 208.
[25] Vertikal-GVO, Art. 4 lit. e) (ii).
[26] Vertikal-LL, Rn. 206(g).
[27] Laut Statcounter hält Google einen Marktanteil von über 90% im Markt für Suchmaschinen (https://gs.statcounter.com/sea..., zuletzt abgerufen am 28.11.2022).
[28] Vertikal-GVO, Erwägungsgrund 5 sowie European Commission (2020), Commission Staff Working Document, Evaluation, Vertical Block Exemption Regulation, Seite 17.
[29] Siehe Endnote 4.
[30] Working document E-commerce Sector Inquiry, Rn. 447.
[31] Working document E-commerce Sector Inquiry, Rn. 503- 504.
[32] Working document E-commerce Sector Inquiry, Abbildung B.59.
[33] Working document E-commerce Sector Inquiry, Rn. 449-451.
[34] European Commission (2020), Study on consumer purchasing behaviour in Europe, in Support studies for the evaluation of the VBER, Final report. Die Produktkategorien umfassen „Cosmetics and Hair“, „Clothing and shoes“, „House and garden equipment“ and “Consumer electronics and large electrical appliances”, Abbildung 3-23, 3-53, 3-83, 3-113.
[35] Working document E-commerce Sector Inquiry, Rn. 456.
[36] Europäische Kommission (2017), Fall AT.39740 - Google Search (Shopping) („Google Shopping”), Rn. 192.
[37] Google-Shopping, Rn. 217.
[38] Google-Shopping, Rn. 218-219.
[39] Google-Shopping, Rn. 218-219.
[40] Google-Shopping, Rn. 221-222.
[41] Google-Shopping, Rn. 220(6).
[42] Google-Shopping, Rn. 228.
[43] Dieser Anteil bezieht sich auf den Teil der Konsumenten, welche in dieser Phase Onlinequellen nutzen. Study on consumer purchasing behaviour in Europe, Abbildung 3-7, 3-14, 3-37, 3-44, 3-67, 3-74, 3-97, 3-104.
[44] Study on consumer purchasing behaviour in Europe, Tabelle 3-43, 3-47, 3-51, 3-55.
[45] Europäische Kommission (2022), Fall AT.40462 – Amazon Marketplace und AT.40703 – Amazon Buy Box, Rn. 274.
[46] Google-Shopping, Rn. 240-241.
[47] Während die Vertikal-GVO für nationale Wettbewerbsbehörden und Gerichte bindend ist, gilt dies nicht für die Vertikal-LL. Diese werden aber typischerweise bei der Bewertung herangezogen (Vertikal-LL, Paragraf 1.1.(2) sowie European Commission (2020), Commission Staff Working Document, Evaluation, Vertical Block Exemption Regulation, Seite 18).